2. Auswertung der Quellen
2.1 Underhills Zeichnungen
In seinem Buch „Deepwater sail“ zeigt der englische Autor Harold A. Underhill u.a. Zeichnungen vom Deckslayout der „France II“. Das Buch erschien zum ersten mal 1952. Das Schiff ging allerdings schon 1922 verloren, so daß nicht angenommen werden kann, daß Underhill es jemals betrat. Er erwähnt, daß die Grundlage für die von ihm angefertigten Modellbaupläne die Original-Baupläne der Werft zur Verfügung gestanden haben. Seine Darstellungen der 4 Brasswinden erscheinen hastig gezeichnet und sind an den Masten recht verschieden, stellen aber die prinzipielle Anordnung einheitlich dar (Anlage 4).
Demzufolge waren die Winden auf der „France II“ hinter den Masten aufgestellt - außer am Besanmast natürlich. (auf deutschen Seglern fand man sie oft vor den Masten).
Die mittleren Beiden der 6 Haupttrommeln werden von Underhill so gezeigt, daß die kleineren Durchmesser der konischen Trommeln zur Mitte zeigen. Alle anderen Zeichnungen und Fotos von Brasswinden in der Literatur zeigen aber eine umgekehrte Anordnung (d.h. die mittleren Beiden Trommeln sind mit den großen Durchmessern einander zugewandt und die äußeren 4 Trommeln zeigen mit den kleinen Durchmessern nach innen.
Auf diese mit großer Wahrscheinlichkeit standardmäßige Konstruktion wurden an den Seiten je 2 zusätzliche Trommeln auf die beiden hinteren Wellen aufgesetzt. Bei Diesen setzt sich (nach Underhill) die alternierende Anordnung fort (dick zu dick etc.). Die versetzte Anordnung erfolgt wegen der damit verbundenen Platzersparnis. Die Untersuchung der Führung der Brassen zwischen der Saling und der Winde wird entweder die bevorzugte Anbringung der Trommeln ergeben oder zeigen, daß beide Möglichkeiten gleichwertig verwendet werden können. Die Konstruktion der Winde wird davon kaum beeinflußt, weil die große und die kleine Scheibe ja ausgetauscht, und damit der Konus umgedreht werden kann.
2.2 Piet Meereboers Papier
Die Broschüre „De inrichting en werking van de braslier van Capt. J.C.B. Jarvis“ von Piet Meereboer beschreibt den geschichtlichen und technischen Hintergrund der Jarviswinde. Vor allem aber werden hier die theoretischen Grundlagen dargestellt, die zur Ermittlung der Brasslängen für die verschiedenen Brasszustände (vierkant- und hart gebrasst), sowie der daraus resultierenden Längen und Durchmesser der Trommeln notwendig sind.
Ich habe die Formeln in den Kapiteln „De lengte van de brassen“ und „De inrichting van de lier“ nachvollzogen und fand alles plausibel und konnte keine Fehler finden außer den im Folgenden beschriebenen:
Auf Seite 10 werden die Winkel der virtuellen Brassen (Sur und Slr) zur Vertikalen (rho und phi) berechnet und der Winkel zwischen diesen Beiden (lambda) wird mit der Differenz vom Halbkreis ermittelt (180° - rho – phi = lambda). Wie aus der Anlage 5 ersichtlich wird, liegen diese Winkel aber in verschiedenen Ebenen. Der wirkliche Winkel zwischen Sur und Slr ist also größer als der von Piet ermittelte.
Es stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung dieses Fehlers, denn die Längen der Brassen werden ja sowieso für den idealen Zustand berechnet, daß der Durchhang gleich Null ist, was natürlich nicht der Realität entspricht. Es soll also abgeschätzt werden, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Winkeln l 2 und l ist. Dazu werden in untenstehender Skizze die erwähnten Winkel für die Untermarsrah der „France II Renaissance“ zeichnerisch ermittelt (das Problem tritt überhaupt nur auf, wenn einer der Brassläufer an Deck und der andere an den Mast (zur Schiffsmitte) geführt wird – also bei den Marsrahen).
Offenbar beträgt für diesen Fall der Unterschied der Winkel nur 2°. Für die Ermittlung der wirklichen Brasslängen wird dieser Winkel aber noch einmal halbiert. Der Fehler wird als so gering angesehen, daß er vernachlässigt werden kann.
Die Vernachlässigung des unterschiedlichen Falls der hintereinander stehenden Masten in Piets Berechnungen hat einen minimalen Einfluß auf den Winkel l, und kann so hingenommen werden.(Die Neigung der Masten nach achtern nimmt in der Regel um 0,5° bis 1,5° zu – was auf der „France II Renaissance“ bei einem Mastfall-Unterschied von 0,5° und einer Höhe der Obermarsrah über Deck von 32,50 m bedeutet, daß die obere Brassbefestigung ca. 0,30 m weiter hinten befestigt ist als theoretisch angenommen.)
Auch die Unterschiede im Mastbau werden nicht berücksichtigt (ob Mast und Marsstenge aus einem Stück gebaut sind oder nicht). Hier gilt das eben angeführte: der Fehler ist marginal.
In der Praxis werden die oberen Läufer der Brassen meist an den Stengen manchmal aber auch an den Stengestagen befestigt, so daß Zentimeter-genaue Berechnungen ohnehin nicht sinnvoll sind.
Abbildung 24 bis 27: Zeichnung der Lawhill Winden. (aus dem „Lawhill“ Buch).
2.3 Der Vortrag von Marcel Wurst
Im Folgenden ist der Text eines Vortrages über die Installation der Brasswinden auf dem Klipper „Cisne Branco“ wiedergegeben, der großzügigerweise von dem Verfasser Marcel Wurst zur Verfügung gestellt wurde.
Das Papier gibt einen guten Eindruck von der praktischen Seite der Auf- und Einstellung der Winden und behandelt einige spezielle Probleme dabei. Deshalb wird es hier wiedergegeben, obwohl dadurch manches innerhalb dieser Studienarbeit doppelt erwähnt wird.
Es sind in Marcel Wurst’s Papier allerdings kleine Ungereimtheiten enthalten. Solche wurden kenntlich gemacht (unterstrichen), während Anmerkungen von meiner Seite kursiv erscheinen.
Die Jarvis – Patent – Brasswinde
Marcel Wurst
Im Zusammenhang mit dem Auftrag, das Rigg des Clippers „Cisne Branco“, einem Segelschulschiff der brasilianischen Marine, zu erstellen, bekam die Navcon naval consulting GmbH, Wolgast, auch den Auftrag, in dieses Rigg die Bedienung der Brassen durch die Jarvis - Winden einzubinden. Die Beschreibung Middendorfs zu den Brasswinden ist wohl die prägnanteste :
„Eine Brasswinde ist so konstruiert, daß mit Hilfe zweier Kurbeln und einfachem Vorgelege 3 Achsen betrieben werden können, welche 2 je aus zwei Scheiben und mehreren Stäben bestehende konische Trommeln tragen.
Die Stäbe haben Höhlungen, in welche sich die einzelnen Windungen der Brassen legen. Um jede Trommel so justieren zu können, daß sich beim Brassen annähernd an der einen Bordseite ebensoviel Tauwerk abwickelt, wie sich an der anderen Seite abwickelt, sind die beiden Scheiben einer jeden Trommel auf der Achse verschiebbar, so daß sich durch eine passende Verschiebung einer oder beider Scheiben jede gewünschte Konizität erzielen läßt.“
Zeichnung : Middendorf S. 376 oben und Seite 376 unten rechts.
Diese Zeichnungen hat Middendorf nach den Brasswinden der „Preussen“ vorgenommen, welche 1897 mit den Jarvis – Winden ausgerüstet wurden, die in Deutschland durch die Firma F.C.W. Wetzel, Hamburg vertrieben wurden. Nach der erfolgreichen Erprobung dieser Winden ließ F.C. Leisz einen Großteil der Flying –P-Line mit diesen Winden ausrüsten, da sich der wirtschaftliche Erfolg einfach nicht von der Hand weisen ließ. Unter den Schiffen, die Leisz mit den Jarvis – Winden ausrüsten ließ befand sich auch die „Passat“, deren Winden noch heute an Bord zu besichtigen sind.
Die Konstruktion der Winden auf der „Cisne Branco“ wurde in Anlehnung an jene Brasswinden vorgenommen, die sich auf der „Passat“ in Travemuende befinden. Allerdings wurden sie auf die veränderten Bedingungen der „Cisne Branco“ angepaßt. Also wurden sie maßstäblich verkleinert und ihnen wurde ein Hydraulikantrieb hinzugefügt, der wahlweise neben dem Handbetrieb benutzt werden kann.
Mein Anteil an der Arbeit an den Jarvis - Winden bestand darin, die fertig konstruierten Winden und die notwendige Brassführung für den Segelbetrieb einzustellen und zu justieren. Dabei hatten wir mit verschiedenen Fragestellungen zu tun, da seit mehreren Jahrzehnten keine Segler mit diesen Winden gebaut wurden und die noch existierenden Winden entweder nicht mehr funktionsfähig, darunter leider auch die der „Passat“, sind oder benutzt werden.
In der „Provisional Specification `Improved Means for Bracing the yards in Square-rigged Ships´ vom 26. September 1890 beschreibt Captain J.C.B. Jarvis die Funktionsweise der Winden folgendermaßen:
„This invention relates to certain improved means for bracing the yards in square-rigged ships and consists in a combination of two or more sets of drums, of conical form, as will hereinafter appear according to the number of yards which it is desired to bring under control.
As at present practised each yard is braced by itself to the port and starboard sides of the ship. When the ship is sailing and is required to go on a new tack the one side has to be eased off and the other side hauled in by members of the crew.
In this the braces are carried from the yard-arms of the foremast to the mainmast and thence through blocks to the set of drums or winches upon which the hauling will be effected. The number of drums will be according to the number of yards. As example suppose there be six yards on the foremast, viz. Lower yards, upper and lower top sail yards, upper and lower top gallant yards and the royal yard. The braces of the first third and fifth yards are carried to the corresponding drums, that is the port brace to the port drum and the starboard brace to the starboard drum. The second fourth and sixth yards are worked by ordinary rope braces as at present, but the yards being all connected together by the sails the pulling round of the lower yards will bring the other yards round also.
The said drums are made conical for the purpose that when the yards are square, that is at right angles to the line of keel each drum will be half filled by the wire rope brace wound upon it the fixed ends being in each case next the centre. As the yards is slewed the „sum“ of the length of the two braces becomes shorter than their „sum“ was when the yard was square, consequently the conical drums becomes necessary in order to take up more of the brace hauled in and to give off less of the brace paid out. The drums are held in position by friction pulleys and by pawls so they can be worked together or independently or be adjusted to the required lengths.
The pinion for driving may be toothed as 1 to 5 of the purchase wheel; the cogs connecting the drums are all of the same size and number of teeth so that the drums all make the same number of revolutions.
The coning of the drums must be proportional to the differences in the length of the braces when squared and when slewed. The size of each drum or pair of drums must be proportional to the actual lengths of braces governed by distance apart of masts and lengths of yards.
The difference between lower yard drums and third and fifth yard drums must be proportional to the difference in lenghts of the repective yards and these gradiations can be most easily settled in each case by making cast iron frames preferable with six, twelver or twenty four faces and piecing up with hard wood blocks which can be turned and bevilled (sic) to the required dimensions.“
Zusammenfassend bedeutet dies :
Ø Die Führung der Brassen erfolgt vom vorderen zum hinteren Mast, dort werden sie auf die jeweilige Trommel der Winde umgelenkt.
Ø Die Anzahl der Trommeln ist der Anzahl der Rahen zugeordnet, die mit der Winde bedient werden sollen.
Ø Entsprechend der Anordnung von Unterrah, Untermars und Unterbram zur Jarvis – Winde ist es möglich einen kompletten Mast zu brassen.
Jarvis spricht von einem Beispielschiff mit 6 Rahen, von denen die Brassen der „first third and fifth yards“, also der ersten, dritten und fünften Rah (Unterrah, Obermarsrah und Oberbramrah) zur Winde geführt werden.
Ø Die Brassen der Steuerbordseite werden auf der Steuerbordseite der Winde belegt, für die Backbordseite gilt Entsprechendes.
Ø In Vierkant gebrasst, sind sie zur Hälfte mit den Brassdrahtläufern gefüllt, deren Ende zur Mitte der Winde an den jeweiligen Trommeln befestigt werden.
Ø Da die Trommeln beim Einholen der Brasse mehr Draht aufnehmen müssen, als auf der anderen Seite ausgegeben wird, müssen sie konisch sein.
Ø Der Konus muß entsprechend dem Unterschied in den Brasslängen zwischen Vierkant und Hart gebrasst sein.
Ø Alle Trommeln einer Winde drehen sich mit der gleichen Geschwindigkeit.
Ø Die Größe der Trommeln muß entsprechend der wirklichen Länge der Brassen sein, die sich aus dem Abstand zum Mast und der Länge der Rah ergibt.
Ø Der Unterschied der jeweiligen Trommeln für eine Rah zu den Trommeln für die anderen Rahen ist verhältnismäßig zu deren Längenunterschieden.
Ø Der Neigungswinkel des Konus wird durch bewegliche Scheiben entsprechend der tatsächlichen Notwendigkeit eingestellt.
Als John Charles Barron Jarvis diese Spezifikation zum Patentantrag einreichte, war er 33 Jahre alt und verfügte über 21 Jahren Erfahrung auf See. Diese Erfahrung ermöglichte es dem, am 5.August 1857 geborenem Jarvis, durch Beobachtung einige geometrische Problembereiche beim Riggen und Bedienen eines Seglers festzustellen, in diese Winde einzuarbeiten und mechanische Lösungen zu finden.
Dabei handelt es sich um folgendes: Während des Brassens, also dem Vorgang eine Rah von einer Seite des Schiffes auf die andere zu bewegen, vermindert sich durch die Kreisbewegung der Rah um den Mast der Abstand der Rahnocken zum hinteren Mast. Dieses ergibt sich zum einen aus der Konstruktion der Beschläge, mit welchen die Rah um den Mast herumgedreht wird. Also dem Tonnenrack, welches den Rahmittelpunkt nach hinten führt und den Schwanenhälsen, welche das gleiche bewirken, als auch dem Mastfall. (Der Mastfall spielt dabei keine Rolle) Verdeutlicht werden soll dies durch die beiden folgenden Zeichnungen:
1. Zeichnung von Tonnerack ( Middendorf, Seite 301 Fig.118 unten links)
2.Zeichnung von Schwanenhals ( Middendorf, Seite 304 Fig 119 unten)
Abb.29
Die Folge davon ist, daß auf der holenden Seite der Brassen mehr Tauwerk eingeholt werden muß, als auf der anderen Seite ausgegeben werden muß.
Die Ursachen für die verschiedenen Holewege der Brassen in Luv und Lee sind vielfältig und werden im Folgenden besprochen. Die Bauweise der Racken hat daran einen kleinen Anteil.
Hauptursache für diese Erscheinung ist, daß sich beim Anbrassen die Luvnock der Rah ein Stück von dem (hinteren) Anschlagpunkt der Brasse entfernt (X-Richtung), aber diesem Punkt auch näher kommt (Y-Richtung). Auf der Leeseite hingegen gehen beide Bewegungen (X- und Y-Richtung) auf den Anschlagpunkt zu. Die folgende Skizze soll diesen „Kreiseinfluß“ verdeutlichen.
Abb.29a
Ein geringer ausgleichender Effekt rührt von der Tatsache her, daß man, wenn die Brassen von ihrem hinteren Befestigungspunkt aus relativ steil nach oben gehen (in einem großen Winkel zum Horizont), weniger Meter Brasse einholen muß um die Rah zu drehen, als wenn die Brassen flacher liefen. Dieser „Resteffekt“ (oder Winkeleffekt) ist um so stärker, je mehr sich die Situation der Brassläufer der Vertikalen annähert. Die folgende Skizze gibt einen Eindruck davon:
Abb.29b
In dem Diagramm in der Anlage 6 sind folgende (teils graphisch ermittelte) Verläufe über die Brasswinkel aufgetragen (für die Unterrah und die Obermarsrah):
- Gesamtlänge des Brassläufers (aus den Rahblättern in Piets Excel-Datei)
- Kreiseinfluß (Brasslängen ausschließlich von oben betrachtet)
- Resteinfluß (restliche Einflüsse auf die Brasslänge, hauptsächlich Winkeleinfluß – wo die Brasslängen ausschließlich von der Seite betrachtet werden). Ergibt sich aus Gesamtlänge minus Kreiseinfluß.
- aktuell abgewickelte Brasslänge ( = Aktuelle Brasslänge (abhängig vom Brasswinkel) minus Länge der Leebrasse bei hart angebrasst)
- Trommelform ( = aktuell aufgewickelte Brasslänge = aktuell abgewickelte Brasslänge der anderen Seite)
Die Verläufe der Kurven „Trommelform“ entsprechen qualitativ den idealen Trommelsilhouetten. D.h., hätten die Stäbe der verschiedenen Trommeln eine aus diesem Verlauf resultierende Form wäre die mit den Taljen auszugleichende Längenänderung der Brassläufer theoretisch gleich Null. Aus diesen Kurven wird auch deutlich, daß beim Aufbrassen und bei der (üblichen) Verwendung von geraden Stäben die Leebrassen weniger gefiert- und gleichzeitig die Luvbrassen mehr geholt werden, als sie selbst das eigentlich möchten. Das erklärt, warum die (Lee-) Brassen mit den dafür vorgesehenen Taljen während des Brassvorgangs (oder vorher) gefiert werden müssen.
Dieser Effekt ist bei der Bedienung der Brassen von Hand nicht weiter wichtig, da dieses permanent während des Brassvorganges korrigiert werden kann. Innerhalb eines mechanischen Systems muß aber diese Korrektur fortlaufend erfolgen. Die Schlußfolgerung Jarvis, dieses über einen Konus zu bewerkstelligen ist nicht unbedingt neu für die Zeit gewesen, ähnliches wurde schon bei einem ähnlichen Problem bezüglich der Ruderlanlagen als Lösung gefunden, jedoch nicht auf die Bewegung der Rahen übertragen.
Ein weiteres Problem, welches sich allerdings wiederum nicht bei der Bedienung der Rahen von Hand bemerkbar macht, ist die Tatsache, daß die Rahen sich einerseits nicht unbedingt um die selbe Achse drehen, wenn der Mast aus mehreren Stengen besteht und die Wege, welche die Rahnocken beschreiben unterschiedlich lang sind, gleicht Jarvis, durch die Verstellung der einzelnen Trommeln auf den entsprechenden Konus, aus. Dadurch wird es möglich, eine gewünschte Synchronisierung der Rahbewegungen zu erreichen und auch auf eine Winde, deren Trommeln sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen eine höhere oder geringere Einhol- oder Ausgabegeschwindigkeit zu erreichen. Im Nachhinein sind dies recht simple Lösungen für ein relativ komplexes System.
Natürlich hat der ursprüngliche Gedanke Jarvis leichte Veränderungen in der praktischen Umsetzung auf den verschiedenen Schiffen, auf den solche Winden genutzt wurden, erfahren. So wurden oftmals aus Platzgründen die vorderen und die hinteren Trommelpaare gleichermaßen installiert, jedoch das mittlere Trommelpaar genau entgegen gesetzt. D. h. bei der vorderen und der hinteren Trommel befand sich bspw. der kleinere Durchmesser in der Mitte, bei der mittleren Trommel wurde dort jedoch der größere plaziert, so das die Trommeln insgesamt dichter zu einander positioniert werden konnten. Weiterhin stellt Middendorf bezüglich der Anordnung der Rahen, die mit der Jarvis – Winde bedient werden fest:
„Die Anordnung besteht im allgemeinen darin, daß die sämtlichen drei unteren Rahen eines Mastes durch eine geeignete Windevorrichtung gleichzeitig angebraßt werden.“
Der Vorteil dieser Anordnung liegt auf der Hand, wenn bedacht wird, daß die Marssegel eines Rahsegler, die Schlechtwettersegel sind, und sie somit am längsten von allen Segeln gesetzt bleiben. Der große Nachteil dieser Anordnung ist jedoch, daß eine bewegliche Rah in dieses Windensystem eingebunden wird. Da sich diese Rahen in der Höhenpositionierung verändern, verändern sich auch die notwendigen Längen der Brassen. Die Winde selbst ist aber nicht darauf ausgerichtet, diese Höhenänderung der Rah und die resultierende Längenänderung der Brassen zu erfassen. Im Gegenteil ist aus Jarvis Anordnung der Rahen deutlich zu entnehmen, daß über eine solche Winde ausschließlich die festen Rahen bedient werden sollen. (Keineswegs. Von den von Jarvis erwähnten Rahen 1, 3 und 5 sind 2 Rahen fierbar (nämlich die Obermarsrah und die Oberbramrah) Der Vorteil hier besteht darin, daß ein gesamter Mast mit der Jarvis – Winde gebrasst werden kann. Der Nachteil dieser Anordnung besteht aber darin, daß unter schlechten Wetterbedingungen weiterhin Decksmannschaft im Bereich der Schanz arbeiten muß und somit im Bereich des übergenommenen Wassers arbeiten muß, um die Obermarsrah zu brassen.
Beiden Anordnungen ist jedoch der Vorteil gemeinsam, daß grundsätzlich weniger Decksmannschaft notwendig ist, um die Manöver durchzuführen, die Verlagerung der Brassen in die Schiffsmitte eine Erhöhung der Arbeitssicherheit zur Folge hat und damit die Schiffssicherheit insgesamt erhöht wird.
Während der Arbeiten an den Jarvis – Winden auf der „Cisne Branco“ folgten wir dem Gedanken Middendorfs und lösten das Problem der beweglichen Rahen durch eine Verlängerung der Brasstaljen. Dabei sind diese quasi an dem losen Ende des Brassdrahtläufers befestigt. Dabei sieht die Führung der Brassen grundsätzlich folgendermaßen aus:
Zeichnung: „Brassführung“ (Abb.30)
Dabei wird ein Brassdrahtläufer, dessen Ende auf der Jarvis – Winde belegt ist über einen Block an den Mast geführt. Dann verläuft der Brassdrahtläufer paralell am Mast entlang, bis er in der gewünschten Höhe wiederum über einen Block umgelenkt wird und durch einen weiteren Block, der an einem Brassstander, dessen Ende an der Rahnock angeschlagen ist, befestigt wird, zur Reling hinuntergeführt wird. Dabei ist am Ende des Brassdrahtläufers eine Brasstalje befestigt, die aus Tauwerk und zwei Blöcken bestehend an der Reling befestigt ist und deren holender Part auf der Nagelbank belegt wird.
Die Aufgabe der Brasstalje ist eigentlich die genaue Einstellung der Brassen, um einen möglichen Spannungsunterschied in den einzelnen Brassen ausgleichen zu können. Gleichzeitig kann darüber aber auch der Höhenunterschied einer beweglichen Rah ausgeglichen werden. Jarvis selbst beschreibt diese Brasstalje in seiner Spezifikation nicht. Jedoch sind diese Taljen systembedingt notwendig, um die Funktion der Jarvis – Winde zu gewährleisten.
Auf der „Cisne Branco“ haben wir feststellen können, daß die Lose, die durch einen Spannungsunterschied in den Brassen entstehen kann, unter Umständen dazu führen kann, daß der Draht von der Trommel springt und einen „Überläufer“ verursacht, der das gesamte System blockieren kann. Beim Segeln wäre ein solcher Vorgang fatal, da er die Manövrierfähigkeit des Schiffes erheblich einschränkt. Das Entstehen dieser Überläufer wird zudem begünstigt durch die Konizität der Windentrommeln, die dazu führt, das ein lockerer Draht aus den Führungen springt und die Trommel zum kleineren Durchmesser herunter rutscht. Einerseits läßt sich dieses aber durch die Korrektur durch die Brasstaljen vermeiden und andererseits ist diese Konizität unerläßlich.
Jarvis hat in seiner Spezifikation dargelegt, daß die Länge der Brassen nicht gleichbleibend ist, wenn sich die Rahen nicht mehr in der Vierkantposition, also im rechten Winkel zur Kiellinie, befinden. Die Länge der Brassen einer Rah minimiert sich, sobald die Rah aus dieser Vierkantposition hinaus bewegt wird.
Zeichnung 2 „Brasslängenänderung“ (Abb.31)
Jarvis überträgt diese Längenänderung zwischen den zwei Brasssituationen Vierkant und Hart angebrasst auf einen Konus. Middendorf jedoch schränkt ein, daß eine solche Übertragung nur näherungsweise erfolgen kann.
Die Längenänderung während des Brassens erfolgt zwischen dem Führungsblock am hinteren bzw. vorderen Mast und der Brasstalje, welche an der Reling befestigt ist.
Zeichnung 3: „Vergleich Brasslängen“ (Abb. Liegt nicht vor)
Da sich die Längenänderung zwischen der Brasstalje und dem Anschlagpunkt an der Rah und die Längenänderung zwischen dem Anschlagpunkt an der Rah und dem Führungsblock proportional verhält, habe ich die geometrische Bestimmung der Längen mit dem Satz des Pythagoras, auf die Hälfte beschränkt.
Der Formelbestimmung sei aber vorangestellt, daß maßgeblichen Einfluß auf die Änderung in den Längen der Brassen die folgenden Faktoren haben :
Ø Der Abstand zwischen den Masten (M)
Ø Der Abstand zwischen dem Anschlagpunkt an der Rah und der Rahmittelpunkt ®
Ø Der Abstand des Rahmittelpunktes (gemessen an der Innenkante der Rah) vom Mast (x)
Ø Die Höhe der Rah (h1) in Bezug auf den Führungsblock (h2)
Zeichnung 4 „Schematische Zeichnung“ P.Meereboer (Abb. 32)
Die Länge bestimmt sich also folgendermaßen:
Su = Ö (( Sur – t ) 2 + v 2 )
Wobei Sur = Ö ( (M+x) 2 + R 2 + ( h2 – h1 ) 2 )
Und t = s cos l, v = Ö s 2 – t 2 , l = 180 Grad - j -r, r = arc sin (g/Sur), j= arc sin ( hi/ Sir )
Sir = Ö( ( M+ d + x 2 + R - ½ Br – b) 2 + ( h1 – h3) 2 )
Sú = Ö( ( M+x) 2 + R 2 )
Diese Längenberechnung hat Jarvis nun für zwei Zustände vorgenommen: Vierkant und Hart angebrasst. Dies ist minimal notwendig, da die Längen der Brassdrahtläufer vorgeben, wieviel Draht insgesamt auf der Trommel der Jarvis – Winden aufgenommen werden muß. Dabei gilt :
1.)Im hart angebrassten Zustand, also wenn eine Rah, soweit wie möglich auf die eine Seite des Schiffes geholt wurde, befindet sich auf der holenden Seite der Winde das Maximum an aufgespultem Draht und auf der fierenden Seite das Minimum an Draht.
2.) Im Zustand der vierkant gebrassten Rah befindet sich auf den beiden Trommeln der Jarvis – Winde gleichviel Draht und die Hälfte der Umdrehungen ist gemacht.
Nachdem diese beiden Drahtmengen, die auf der Trommel aufgenommen werden mußten bestimmt waren, ließ sich bestimmen, welche Durchmesser die Trommeln haben mußten. Dieses läßt sich zwar auch rechnerisch bestimmen jedoch glaube ich, daß diese Neigung des Konus ermittelt wurde durch probieren. Middendorf schreibt dazu :
„Ist die beste Form der Trommel ausprobiert, dann werden die Scheiben fest gekeilt und die einzelnen Stäbe in die Einschnitte der Scheiben gelegt und hier mittels Holzkeilen befestigt.“
In diesem Weg der Bestimmung des Konus der Trommel liegt auch der Grund, warum einerseits die Brasstalje zur Feinjustierung notwendig und andererseits eine Spannungsänderung in den Brassen unvermeidbar ist. Die Längenänderung zwischen diesen beiden Extremsituationen der Rah erfolgt nicht linear, sondern proportional (potentiell ? siehe Anlage 6) und läßt sich aus diesem Grund nur näherungsweise auf einen Konus übertragen.
Zeichnung „Längenänderung auf Grade „ (Abb. 33)
Bei der Überlegung dies Jarvis – Winden auf einen vollautomatisierten Betrieb einzurichten, sind wir zu dem Schluß gekommen, daß es notwendig ist, entweder die Form der Trommel in der Gestalt zu ändern, daß die Stäbe nach innen gewölbt sein müssen, oder es notwendig ist, die Brasstaljen über einen hydraulischen Druckmesser ein- bzw. auszufieren. (Siehe hierzu auch Kapitel 8 – Für und Wider des Motorenantriebs)
Zeichnung „ innengewölbte Trommeln“ (Abb. 34)
Um eine Rah ohne Spannungsänderungen in den Brassen mittels eine Jarvis – Winde zu bedienen, muß der Konus entsprechend der tatsächlichen Längenänderungen in den jeweiligen Brassituationen zwischen Vierkant und Hart angebrasst abgestimmt sein. Mit einer solchen Trommel ist es möglich das Ende des Brassdrahtläufers fest am Anschlagpunkt an der Reling oder dem Brassbaum zu belegen. Eine Brasstalje ist nicht mehr notwendig. Eine mögliche Materiallängung im Draht kann durch Einkürzen auf der Winde behoben werden.
Die Innenwölbung des Konus entspricht der Kurve der Umkehrfunktion, welche sich ergibt, wenn die Längenänderungen der Brassen in den jeweiligen Situationen erfasst werden.
Soweit zur Theorie.
Die Beschreibung Middendorfs bezüglich der Einstellung und Justierung der Trommeln durch Probieren haben wir auf der „Cisne Branco“ am eigenen Leib erlebt und es läßt sich nur feststellen, daß dieses Try-and Error-Prinzip natürlich einige Zeit und Geduld erfordert, da dies bedeutet, die Einstellung an den Scheiben vorzunehmen, um dann durch Brassen zu überprüfen, ob sie richtig ist. Ist sie es nicht, muß die Rah wieder in Vierkant gebracht werden und sämtliche Einstellungen verändert werden. Dabei lassen sich an den Trommeln ausgehend von der Grundeinstellung der Trommel die folgenden unterschiedlichen Möglichkeiten zur Veränderung des Neigungswinkels feststellen:
Zeichnung „Grundsituation der Trommel“ (Abb. 35)
Abb. 36
1. S1 wird nach innen verschoben und S2 bleibt gleich.
Dadurch wird der Neigungswinkel größer und pro Umdrehung ist die Aufnahme bzw. Ausgabe von Draht erhöht. Dadurch dreht sich die entsprechende Rah auch schneller um den Mast. Dabei verkleinert sich der Innendurchmesser und der Außendurchmesser vergrößert sich.
2. S1 wird nach innen verschoben und S2 ebenfalls.
Dabei vergrößert sich der Neigungswinkel stärker als im Beispiel 1.
Die Einnahme oder Ausgabe des Drahtes erfolgt noch schneller, die Geschwindigkeit der Rah erhöht sich entsprechend und der Innendurchmesser verkleinert sich stärker, der Außendurchmesser vergrößert sich entsprechend.
3. S1 bleibt in der Position, S2 wird nach außen verschoben.
Hier vermindert sich der Neigungswinkel des Konus, die Aufnahme bzw. Ausgabe von Draht verlangsamt sich, der Innendurchmesser wird vergrößert und der Außendurchmesser verkleinert. Die Geschwindigkeit der Rah ist vermindert.
4. S1 bleibt gleich, S2 wird nach innen verschoben.
Durch eine solche Einstellung wird der Neigungswinkel wiederum vergrößert, der Anfangsdurchmesser wird zwar verkleinert, aber der Enddurchmesser wird erhöht. Am Anfang wird zwar weniger Draht aufgespult, als in der Ausgangssituation jedoch ist die Aufnahme bzw. Abgabe pro Umdrehung erhöht und die Geschwindigkeit der Rah erhöht sich.
5. S1 und S2 werden nach außen verschoben.
Dadurch verringert sich der Neigungswinkel, der Innendurchmesser wird kleiner und der Außendurchmesser ebenfalls. Die Geschwindigkeit der Rah nimmt ab.
Diese 5 Punkte sind teilweise unplausibel. Allgemein kann man zu dieser Problematik sagen, daß die Winkelgeschwindigkeit einer Rah sich vergrößert, wenn mehr Draht auf- und abgespult wird, also wenn die Durchmesser erhöht werden. Die Geschwindigkeit ist also nicht abhängig von der Konizität sondern nur von den Durchmessern der Trommeln.
Für den Fall, das aus der Vierkant-Position heraus angebrasst wird, gilt Folgendes:
- Werden die Brassen lose muß die Konizität vergrößert werden (S1 und/oder S2 nach innen)
- Kommen die Brassen steif muß die Konizität verkleinert werden (S1 und/oder S2 nach außen)
- Dreht sich die Rah zu langsam, müssen die Trommeldurchmesser vergrößert werden (S1 und S2 zum kleinen Durchmesser hin verschieben)
- Dreht sich die Rah zu schnell, müssen die Trommeldurchmesser verkleinert werden (S1 und S2 zum großen Durchmesser hin verschieben)
Über diese unterschiedlichen Formen der Verschiebung der Scheiben kann also Einfluß genommen werden, wie viel Draht des Brassdrahtläufers auf der Trommel aufgenommen werden kann und mit welcher Geschwindigkeit die Trommelpaare bei gleicher Umdrehungszahl aller Trommeln den Draht ausgeben bzw. aufnehmen. Letzteres ist auch gerade dann von Bedeutung, wenn die Rahen in ihrer Bewegung synchronisiert werden sollen und eine gewünschte Brassituation, wie bspw. das Fächerbrassen, d.h. das Einstellen der Rahen in unterschiedlichen Winkeln zur Schiffsachse, zu einem beliebigen Zeitpunkt gewährt sein soll.
Auf der „Cisne Branco“ war es uns aufgrund der Tatsache, daß die Trommel ein wenig länger waren, als unbedingt erforderlich möglich einen weiteren Weg zur Synchronisierung zu wählen. Wir konnten die Belegpunkte des Drahtes auf den Trommeln verschieben. Dabei führte die Verlagerung des Drahtes nach innen zur Verlangsamung der Drehgeschwindigkeit der Rah und die Verlagerung nach außen zur Erhöhung. Auf diese Art und Weise war es uns einerseits möglich Zeit während der Justierung zu sparen und andererseits das gewünschte Ergebnis zu erreichen
Durch die Verbindung der herkömmlichen Jarvis – Winde mit einem Hydraulikantrieb auf der „Cisne Branco“ war die Justierung der Winde zum bestmöglichen Zustand, also der Situation mit den geringsten Spannungsänderungen in den Brassen, unbedingt erforderlich. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn bedacht wird, wie sich die Kräfte, welche über die Hydraulik auf dieses System gebracht werden letztlich wirken.
Durch die Führung der Brassen wurde jede auf die Rahnock wirkende Kraft vervierfacht. Die Hydraulik, die den Betrieb ungemein erleichterte, sollte über Proportionalventile gesteuert werden, damit sie stufenlos schaltbar war und verfügte über eine Leistung von 200 KW. Letztlich unterblieb aus ökonomischen Erwägungen der Einbau der Proportionalventile, aber in der Folge bedeutete dies trotzdem, daß an den Rahnocken mit einer Kraft von 28 t gearbeitet werden konnte. Dieses auf einen Hebel von 16 m bedeutet eine ausreichende Kraft aufbringen zu können, die bei zu großer Spannung ausreichen kann, die Rahen zu verformen oder zu brechen.
Wir konnten uns selbst anschauen, welchen Effekt diese angesprochenen Kräfte bewirken, als durch die fehlerhafte Bedienung, ein Segel wurde während des Brassens anläßlich der Sea-Trials durch die Probefahrt – Crew der Werft nicht komplett los geworfen, eine Spannung aufgebaut wurde, die eine Unterrah flexibel verformte und ein Tauwerk zerriß, welches eine Bruchlast von etwas 3,6 t hatte. Das Geräusch und die Bewegung der Rah, die einem gespannten Bogen entsprach war wirklich nicht schön.
Es war nicht möglich innerhalb des Kostenzwanges, der sich während des Baus an der „Cisne Branco“ ergab, hydraulische Spannungsmesser und ähnliches einzubauen, also konnten wir auch dieses Problem nicht gänzlich beseitigen. Zur Zeit als Jarvis diese Winde erdachte, war es aber über den Handbetrieb nicht möglich diese Kräfte aufzubringen. Demzufolge ist ihm auch nicht anzulasten, daß eine solche Feinabstimmung nicht vorgenommen wurde. Damals reichte die Justierung über die Brasstalje und auch innerhalb eines halbautomatisierten Betriebes, wie er auf der „Cisne Branco“ vorgesehen war, läßt sich dieses gewährleisten. Im Hinblick auf die Einsparung von Kosten während des laufenden Schiffsbetriebes aber muß darüber nachgedacht werden, daß es weitere Möglichkeiten gibt, die eine solche Winde bietet. Dabei sollte auch nicht vergessen werden, daß es zwar andere Möglichkeiten gibt, Rahen über Winden zu bedienen jedoch diese meist kostenintensiver sind, als der Betrieb über die Jarviswinde.
Die Konsequenzen aus dem wahlweisen Einsatz der Jarvis – Winde im Handbetrieb oder im hydraulischen Betrieb waren aber nicht die einzige besondere Anforderung beim Einrichten der Winde auf der „Cisne Branco“. Wir mußten uns auch mit den Auswirkungen einer gedrehten Winde auseinandersetzen. Dies ergab sich aus der Situation, daß die ausführende Werft Veränderungen an den Aufbauten des Schiffes vorgenommen hatten, die wir beim Bau der Jarvis Winde nicht berücksichtigen konnten, da diese fertiggestellt waren, als die Änderungen vorgenommen wurde. In der Konsequenz bedeutete dies für uns, wir konnten die Winde für den Großmast lediglich um 180 Grad gedreht einbauen. Dies bedeutete aber auch, daß die Brassen auf den Trommeln nicht in der vorgesehenen Reihenfolge befestigt werden konnten, sondern auch diese verdreht waren.
Dies führte dazu daß die Brassdrahtläufer der beiden unteren Rahen teilweise gegeneinander reiben konnten und sich gegenseitig aus den Führungen auf der Winde drückten. Wir konnten dieses Problem lediglich durch eine gänzlich geänderte Führung der Großunterrahbrassen lösen.
Dabei wurde der Brassläuferdraht nicht an einen Führungsblock am hinteren Mast geführt, sondern auf einen Poller an der Schiffsreling. Von dort wurde er dann zu einem tieferen Punkt am Mast umgelenkt und über einen dort befestigten Block wiederum auf die Jarvis – Winde umgelenkt. Der relativ ungünstige Zugwinkel nach unten, der dabei entsteht, ließ sich dabei nicht vermeiden. Allerdings handelt es sich bei den Unterrahen um feste Rahen, die einerseits nur eine geringe Möglichkeit haben aus der Horizontalen zu kippen, andererseits im einen justierten Brassystem mit der gleichen Kraft nach oben festgehalten werden, wie sie nach unten gezogen werden. (Das mag man unbewiesen kaum so hinnehmen) Die Scherungsbelastung auf dem Beschlag am Mast, die durch ein Kippen der Rah aus der Horizontalen verursacht wird, liegt nach unserer Einschätzung auch im Bereich der Materialtoleranzen. ( ? )
Zeichnung : Führung der Großbrassen (Abb. 37)
Insgesamt haben im Schnitt 2 bis 3 Personen 6 Wochen an der Installierung und der Einrichtung der Brassen und Jarviswinden gearbeitet, bis sie auf der „Cisne Branco“ innerhalb der Gegebenheiten optimal arbeitete. Wir mußten dabei vieles von den Dingen, die Jarvis gwußt hatte, wieder erlernen, aber es lassen sich die Vorteile dieser Winde nicht von der Hand weisen, wenn bedacht wird, daß es uns möglich war, einen gesamten Top unter Zurhilfenahme der Hydraulik mit nur zwei Personen zu brassen. Eine Arbeit die unter günstigen Bedingungen mit dem drei- oder vierfachen an Personalaufwand verrichtet wird. Dieser Effekt dürfte auch Leisz damals bewogen haben, diese Brasswinden auf seinen Schiffen zu installieren. Im Lebenslauf von J.C.B. Jarvis wird schon ausfrüher Zeit von einem Mann-über-Bord-Manöver berichtet, während dem es möglich war,den Großmast der „Lawhill“ mit nur zwei Mann Besatzung in kürzester Zeit backstehen zu lassen, damit also das Schiff auf zu stoppen. Vermutlich war die körperliche Arbeit angesichts der Übersetzung von 1 zu 5 anstelle der 1 zu 7 Übersetzung und des Einsatzes der Hydraulik auf der „Cisne Branco“ eine wesentlich größere.
Jarvis werden weitere Neuerungen zugeschrieben, jedoch kann ich nicht beurteilen, in wie weit dieses korrekt ist, da sich diese Angaben nicht weiter bestätigen ließen. Ich empfinde allerdings allein die Entwicklung dieser Brasswinden als eine beachtliche Leistung. Es ist meiner Meinung nach zu bedaueren, daß diese Winden im Zuge des Niedergangs der Frachtsegler derart in Vergessenheit geraten sind, daß es heute kaum jemanden gibt, der sich mit ihrer Bedienung und Wirkungsweise auskennt. Vor allem da die Ökonomischen Aspekte aus betriebswirtschaftlicher und arbeitsökonomischer Sicht nicht bestreitbar sind.
Etwa vier Monate nach der erfolgreichen Übergabe der „Cisne Branco“ wurde ein weiterer Neubau, das Schwesterschiff die „Stad Amsterdam“, mit entsprechenden Winden in den Dienst gestellt. Ich kann zu den dort befindlichen Winden nichts anführen, weiß aber das die Brass winden der „Cisne Branco“ ihre Funktionfähigkeit seit der in Dienststellung bewiesen haben und von der brasilianischen Marine mit Stolz während der Open-ship-Tage vorgeführt werden.
Marcel Wurst
Marcel Wurst ist ein ehemaliger Mitarbeiter der navcon GmhH und war als Rigger an der Montage der Takelage der „Cisne Branco“ beteiligt.